aus Noa Borres Sicht:
--> vom Marktplatz
Ich bekomme es kaum mit, wie mich die Friedenswächter im Justizgebäude herum führen, da erneut ein Tränenschleier meine Sicht trübt. Erst als sie mich in einem Zimmer mit dunkelblauen Sofas allein lassen und ich in einem dieser Möbelstücke fast verschwinde, versuche ich mich wieder zu fangen. Ich habe kaum noch Zeit bevor meine Familie kommen wird und ich will ihnen nicht so verheult und mit einer Rotznase unter die Augen treten. In Ermangelung von Alternativen und da es eigentlich sowieso schon alles egal ist, schnäutze ich mich in ein Blatt, dass ich einer Topfpflanze ausreiße und dann schnell verstecke, als die Türe aufgeht.
"Oh, Noa", heult Mia und läuft auf mich zu. Sie umarmt mich, als würde sie mich nie wieder los lassen. Auch ich halte sie fest und blicke über ihre Schulter zu dem Rest meiner Familie. Auch Korra und Dave weinen, wobei ich eher das Gefühl habe, das mein kleiner Bruder nur aus sympathie heult und nicht, weil er versteht, was dass bedeut. In den Gesichtern meiner Eltern erkenne ich, dass sie wissen, dass ich keine Chance habe. Auch gut, dann brauche ich ihnen nichts vorspielen.
"Mein armer Kleiner", schluchzt Thira. Ich werde die ganze Zeit gedrückt und wir weinen mehr, als dass wir uns verabschieden von einander. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das das letzte Mal ist, wo ich meine Familie sehe.
"Wirst du jetzt weg fahren?", fragt Dave und setzt sich auf meinen Schoß. Ich nicke und er fragt mit seiner kindlichen Stimme weiter: "Und wann kommst du wieder?"
Nie mehr, will ich ihm antworten, aber neue Tränen ersticken meine Worte.
"Bald", meint Dad. Unsere Stiefmutter nimmt mir Dave ab und Dad zieht mich auf seinen Schoß. Ich habe ihn seit dem Tod meiner Mutter nicht mehr weinen gesehen, aber jetzt rinnt ihm stumm das Salzwasser aus den Augen.
"Könnt ihr uns beide kurz allein lassen?", fragt Dad, als unsere Zeit schon fast vorbei ist. Thira nickt und will meine Geschwister nehmen.
Ich reiche Dave meinen Teddy, er würde länger etwas von ihm haben als ich, aber Mia nimmt ihm das Stofftier wieder weg und reicht es mir zurück: "Damit hast du eine Erinnerung an uns in der Arena und wenn du nicht einschlafen kannst, beschützt er dich", meint sie, aber es ist nicht nur das Stofftier, das sie mir reicht, sondern auch ein kleiner Zettel. "Lies das bei deinem Interview vor", bittet sie, dann folgt sie Thira und den kleinen beiden nach draußen.
Als sich die Tür hinter ihnen shcließt, drückt Dad mich fest an sich und vergräbt sein Gesicht in meinen Haaren, während meine Tränen sein Shirt durchnässen.
"Lauf zum Füllhorn sobald das Signal ertönt", meint er plötzlich emotionslos.
Schockiert befreie ich mich aus seinem Griff und blicke ihn entsetzt an. Den Kampf am Füllhorn würde ich doch nie überleben. Als ich jedoch in seine Augen blicke, weiß ich, dass genau das das Ziel dahinter ist. Das ich am Füllhorn sterbe, wo es so viele Tote gibt, dass die Szenen nicht immer wieder eingespielt würden, dass meine Geschwister es verdängen könnten. Außerdem erinnern wir uns beide an den Tribut aus dem letzten Jahr. Er war ein paar Jahre älter als ich und hat sich nicht schlecht geschlagen, bis er den Karrieros in die Hände gefallen ist. Thira hat uns Kinder vom Fernseher weg gezogen, als einer der Karrieros begonnen hat, dem Jungen die Finger abzuschneiden und ihn langsam zu verstümmeln. Erst einige Stunden später, durften wir wieder hinschauen. Dad wollte nicht, dass es mir wie diesem Jungen erging und dass ich stattdessen einen schnellen Tod fand und am schnellsten ging es am Füllhorn.
"Okay mach ich", schniefe ich. Es tut weh, dass nicht einmal er glaubt, dass ich vielleicht eine winzige Chance habe. "Ich hab dich lieb."
"Ich dich auch", schluchzt Dad und drückt mich wieder an sich.
"Dad?"
"Ja?"
"Kann Korra jetzt statt mir in die Schule gehen?" Es musste doch wenigstens etwas Gutes an der ganzen Sache sein.
"Ja, natürlich, ja wird sie", meint er.
"Kannst du ihnen noch mal sagen, dass ich sie ganz toll lieb habe und auch Thira", schniefe ich, als mir einfällt, dass ich das vergessen habe, ihnen zu sagen. Wieder nickt er, dann kommen die Friedenswächter und zwingen ihn hinaus zu gehen.